BG Kritik: „Alice hinter den Spiegeln“

14. Juli 2016, Christian Mester

Alice Through The Looking Glass (US 2016)
Regisseur: James Bobin
Cast: Mia Wasikowska, Johnny Depp, Sacha Baron Cohen
Story: Seit sie im ersten Teil fast an einen schludrigen Lord verheiratet worden wäre, ist Alice glücklich auf hoher See unterwegs gewesen. Unglück wartet zuhause auf sie, wo man sie plötzlich erpresst: entweder soll ihre Mutter ihr Haus verlieren, oder sie ihr Schiff. Verzweifelt flieht sie durch einen Spiegel ins Wunderland, in dem sie einen sterbenden Hutmacher vorfindet. Um diesen zu retten, stiehlt Alice kurzentschlossen eine Zeitmaschine, und reist damit zurück in die Vergangenheiten ihrer fantastischen Freunde…

Tim Burtons Alice ohne Tim Burton

Der erste Teil hatte das Glück, der erste 3D Film nach Avatar zu sein – das und Depps Erfolg als Jack Sparrow führten zu dem Milliardenerfolg

Schon ein wenig verwunderlich, dass es 6 lange Jahre gedauert hat, bis der Disney Konzern auch die zweite der beiden Wunderlandgeschichten verfilmte. Der erste hatte damals immerhin über eine Milliarde Dollar eingespielt, also hätte man durchaus erwarten sollen, dass Depp den Hut schon viel eher wieder aufsetzen würde. Dass es nicht sofort weitergehen konnte, lag vermutlich an gleich mehreren Dingen. Tim Burton wollte nicht mehr, man hatte genügend andere Blockbuster in der Mache, und Drehbuchautorin Linda Woolverton (Die Schöne und das Biest, König der Löwen) hatte ja bereits Probleme mit der Umsetzung des ersten Buches gehabt. Anstatt sich in dem Wahnsinn der wunderbaren Fantasie Carrolls auszutoben, entzauberte sie den legendären Hutmacher, indem sie seine Verrücktheit spießig hinterfragte und erklärte, und verlieh der 3D-Alice Schwert und Schild, damit sie in einem gewöhnlichen Standard-Showdown gegen einen leicht erkennbaren Endgegner kämpfen konnte.

Alice hinter den Spiegeln, das zweite Werk Carrolls, ist auf dem Papier noch wesentlich weiter entfernt von den uns gewohnten Strukturen einer Abenteuerstory, in der das Gute eine Quest zu erfüllen und jemanden zu besiegen hat. Woolverton musste für den zweiten Film somit eine neue Handlung entwickeln, und dass sie, die auch den mauen Maleficent schrieb, dafür verantwortlich war, ist leider nicht zu übersehen. Wieder schwingt sie den falschen Flamingo und fährt munter damit fort, das Wunderland zu entmystifizieren. Nachdem der Hutmacherursprung eigentlich schon längst erklärt worden war, kommt sie erneut darauf zurück und zeigt den lispelnden Narr im Kreise seiner Familie, in dem er als peinlicher Zausel seinen Vater blamiert. Drastischer geht es dieses Mal den beiden Königinnen an den Kragen. Man erfährt im Detail, wie es zum royalen Zwist zwischen den Schwestern kam und darüber hinaus, wie der Kopf der Herz-Königin so überdimensional groß anschwellen konnte. Auch die anderen bekannten Figuren wie Tweedledee oder der Hase werden in jünger gezeigt, ohne dass was dazu gewonnen wird.

Kaum zu glauben, aber der Film wiederholt die narrativen Fehler des ersten Teils und vertieft sie auch noch. Das Besondere an Lewis Carrolls Wunderland war das Seltsame, das Außergewöhnliche, das Verrückte, und hier schickt man sich an, all das verständlich nachvollziehbar werden zu lassen, wenn doch gerade das kindlich verspielt-verrückte dieser Welt der Reiz daran sein sollte.

… der erste Teil selbst wurde von vielen jedoch als überraschend schwach empfunden

Wenn wenigstens ein gefassten Plan aufgehen würde, dadurch einen anspruchslosen, aber funktionierenden Fun-Actioner wie Kampf der Titanen oder Teenage Mutant Ninja Turtles zu bekommen. Dass Burton hier nicht hinter der Kamera steht, sieht man zunächst nicht direkt. Wieder besticht das Wunderland durch seinen zwar künstlich-affektierten, aber wunderbar eigensinnigen Bonbon-Look, mit prächtigen Kostümen und neuen Figuren, die designtechnisch zu den alten passen.

Man kann es allerdings an jedem Saum, an jeder Naht fühlen, dass Tim Burton nicht länger als unsichtbare Grinsekatze im Spiel ist, denn trotz einer Laufzeit von weniger als zwei Stunden legt der Film ein unerträglich zähes Raupentempo an den Tag. Alice reist zwar viel umher, wird aber ein jedes Mal in viel zu lange belanglose Gespräche verwickelt, die die ohnehin schon uninteressante Handlung in die Länge ziehen. Überall fehlt es an Pepp, an Energie, an Begeisterung der Darsteller, diese berühmten Literaturklassikerfiguren zu spielen. Helena Bonham-Carter, Anne Hathaway und Mia Wasikowska sprudeln nur das denkbar Nötigste runter, und Pechvogel Depp verpasst es zum zweiten Mal, die Hutmacherfigur – abgesehen von seinem makellos markanten Design – individuell unterhaltsam und denkwürdig zu gestalten. Eigentlich ein Meister darin, exzentrische wirre Figuren wie Edward mit den Scherenhänden, „Captain“ Jack Sparrow, Rango oder Raoul Duke zu spielen, geht sein Tick hier nicht auf. Hier sieht er unterhaltsam aus, ist er aber nicht. Einziges Lob ist Neuzugang Sacha Baron Cohen als personifizierte Zeit auszusprechen, der sich eifrig bemüht und vereinzelt witzig sein darf, aber dadurch eingeschränkt wird, dass das Script nie weiß, ob er mit seinen Minuten- und Sekundenrobotern ein zielstrebiger Antagonist oder ein schusseliger Beobachter des Geschehens sein soll.

Im ersten Film war es noch so, dass die Elemente des Wunderlands dezente Referenzen in der Wirklichkeit hatten, und es schien, als visualisiere das Wunderland ihre Widerspenstigkeit vor dem Erwachsenwerden und all dem, was aus Gesellschaftssicht für eine junge Frau des späten 19. Jahrhunderts dazu gehörte. Sprich, anstatt nur bunte und verrückte Figuren und ein eventuell imaginäres Abenteuer zu zeigen, hatte der erste Film tatsächlich ein gewisses Maß an deutbarem Hintergrund. Im zweiten gibt es keinerlei solch interessanter Verbindungen zur Realität, und alles, was im Wunderland passiert, erweckt den Eindruck unüberlegt zusammengeworfener Ideen. Der Hutmacher liegt zusammenhangslos im Sterben, weil er plötzlich meint, seine Familie sei vor Jahren doch nicht von dem Jabberwocky getötet worden. Anstatt die schon 2010 verpasste Gelegenheit zu ergreifen, den Hutmacher zu einer ikonischen Filmfigur zu machen, und ihn mit Alice auf ein spaßiges Abenteuer zu schicken, denn Depp war zumindest bis vor kurzem noch Familienmagnet, fungiert das Sequel eher wie ein schnöder Museumsbesuch. Alice latscht relativ ungewillt durch die Historie der Wunderlandfiguren und lässt sich von James Bobin (wirklich derselbe Bobin, der den spaßigen neuen Muppets inszeniert hat?) ellenlang zutexten, während Johnny Depp in der Ecke gefühlt grinsend versucht, einen Feuerlöscher zu essen. Mit dem Timbre, dem Charisma, dem Charme, dem mitreißenden Spaß des beispielsweise ersten Pirates of the Caribbean hat das leider nichts gemein.

Fazit:
Wenn dadurch mal keine Dodos aussterben. Abgesehen von dem erneut löblich exquisiten Kostüm- und Effektdesign irrt Alice hier durch ein zwar visuell ähnlich aussehendes, aber langweiligeres Abenteuer. Johnny Depp stolpert nach Mortdecai, Into the Woods, Tusk, Lone Ranger und Transcendence ein weiteres Mal schauspielerisch.
3 / 10

Autor: Christian Mester

Dieser Filmenthusiast (*1982) liebt es, manchmal auch mit Blödsinn, Leute für Filme zu begeistern. Hat BG im Jahr 2004 gegründet und ist dann für Pressevorstellungen, Interviews und Premieren viel rumgereist, hat als Redakteur u.a. für GameStar geschrieben, war dann mal Projektleiter in einer Werbeagentur mit Schwerpunkt dt, Kinostarts und - schaut gerad vermutlich schon wieder was.

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