BG Kritik: „Vielleicht lieber morgen“

1. November 2012, Daniel Schinzig

1991: Von nun an soll alles anders werden! Das schreibt Charlie (Logan Lerman) zumindest in einem Brief an einen nicht näher bekannten Adressaten. Der introvertierte Teenager hat keine wirklichen Freunde, traut sich in der Schule nicht mitzumachen und fühlt sich generell, als würde er
ständig und überall übersehen. Das erste Jahr in der High School soll nun der richtige Zeitpunkt für Veränderungen sein. Doch so wie gewünscht klappt das nicht: Auch auf der höheren Schulform ist er trotz guter Vorsätze der, der alleine am Mittagspausentisch sitzen muss. Bis er das lebens-freudige Stiefgeschwisterpärchen Sam (Emma Watson) und Patrick (Ezra Miller) kennenlernt.

© Capelight

Vielleicht lieber morgen (USA 2012)
Originaltitel: The Perks of Being a Wallflower
Regie: Stephen Chbosky
Cast: Logan Lerman, Emma Watson, Ezra Miller

Kritik:
„Alle wissen zu leben, ich sehe, dass sie über mich hinweg leben und finde den Zugang nicht“, schrieb Siegfried Kracauer bereits in seinem 1928 veröffentlichten Roman „Ginster“. Eine zeitlose Aussage, mit der sich viele Teenager identifizieren können. Auf der Party der zu sein, der an
der Wand lehnt und zusieht, wie alle anderen auf der Tanzfläche ausgelassen Spaß haben: Das kennt Charlie nur zu gut. Wenn er denn überhaupt einmal ausgeht. Eigentlich verbringt er die freie Zeit lieber in den sicheren vier Wänden, spricht mit seinen Eltern und seiner Schwester, trainiert auf der alten Schreibmaschine seine schriftstellerischen Fähigkeiten. Doch im Leben weiter bringt ihn das nicht. Der Wunsch nach Veränderung ist da, doch der Mut zum entscheidenden Schritt fehlt. „It always feels like I’m waiting for Something“, wie Nada Surf schon treffend zu singen wussten. Oder um den deutschen Titel des Films sprechen zu lassen: Leben? „Vielleicht lieber morgen“.

Der typische Fall eines jugendlichen Außenseiters also, wie er schon unendlich oft in etlichen Hollywoodkomödien und Independentfilmen abgehandelt wurde? Der uncoole Nerd, der durch ein bestimmtes Ereignis in einer Gruppe Zugang findet, erste Erfahrungen in Sachen Liebe und Drogen macht und das echte Leben kennenlernt? Auf den ersten Blick scheint es so. Und unter falscher Regie hätte die Romanvorlage „The Perks of Being a Wallflower“ (Im Deutschen auch bekannt als „Das also ist mein Leben“) wohl tatsächlich in Beliebigkeit versanden können. Die Angst hatte wohl auch Buchautor Stephen Chbosky, der kurzerhand einfach selbst das Drehbuch schrieb und Platz auf dem Regiestuhl nahm. Anfall von Selbstüberschätzung? Nö, alles richtig gemacht!

© Capelight

Zu Beginn mag man noch zweifeln, ob Chbosky eine adäquate Filmsprache für seinen Briefroman gefunden hat, wenn Charlie an den schlicht „Freund“ genannten Adressaten einen Brief schreibt, der per Off-Kommentar hörbar gemacht wird. Sprich: Dass einfach einige Passagen eins zu eins aus der Buchvorlage zur Einführung des Teenagers vorgelesen werden, während wir passend
dazu Beispiele für das Gesagte sehen. Das stinkt im ersten Moment nach Einfallslosigkeit. Doch schnell fährt Chbosky dieses Stilmittel zurück und verlässt sich ganz auf schlichte, jedoch stets elegante Bilder, mit denen er Charlies Außenseiterdasein beobachtet. Die Off-Kommentare Charlies ziehen sich zwar durch den gesamten Film, doch wirken mit Bedacht eingesetzt und stehen der visuellen Ebene nie im Weg.

Vor allem aber kennt Chbosky seine Figuren, ihre Probleme, ihre Eigenheiten. Und das merkt man dem Film in jeder Sekunde an. Charlie ist nicht nur einfach der introvertierte Teeny, der zu schüchtern ist, um sich aus seinem Schneckenhaus zu wagen. Vielmehr ist dies psychologisch begründet, bedingt durch vergangene Schicksalsschläge, deren ganzes verstörendes Ausmaß
sich erst am Ende abzeichnet. Und man mag es glauben oder nicht: „Percy Jackson“ Mime Logan Lerman bringt die innere Zerrissenheit seines Protagonisten, sein im Verlauf des Films langsames Aufblühen, mit zurückhaltender Mimik überzeugend rüber. Ebenfalls toll: Emma Watson, die auch ohne Zauberstab in der Hand eine gute Figur macht. Wirklich überwältigend jedoch ist der Dritte im Bunde: Hat Ezra Miller noch vor Kurzem in „We need to talk about Kevin“ als introvertierter Psycho-Junge mit verstörendem Blick für Unwohlsein gesorgt, ist sein Patrick eine gänzlich gegensätzliche Rolle. Als schwuler, leicht aufgedrehter Spaßmacher spielt er dem Lehrer Streiche oder tritt auch mal als Transvestit in einer Bühnenversion der „Rocky Horror Picture Show“ auf. Doch auch hinter dieser Fassade kommt immer wieder der verletzliche Junge zum Vorschein, der seinen Platz in der Welt noch erst finden muss.

© Capelight

Es deutet sich schon an: Charlie findet keinen Anschluss in einer angepassten 08/15-Clique, sondern in einer ebenfalls aus Außenseitern bestehenden Gruppe, in der letztlich jeder sein ganz individuelles Päckchen zu tragen hat. In dieser Umgebung von verschroben-realistischen Typen macht Charlie seine ersten Erfahrungen mit Partys, Drogen und – natürlich – der Liebe. Und muss auch lernen: Wer sich ins echte Leben wagt, riskiert auch, in Probleme zu geraten, wenn nicht gar selbst für welche zu Sorgen. Und wer meint, er wisse, wie die innere Entwicklungsreise Charlies enden wird, wird in einer Szene, in der man sich gerade in seiner Vermutung bestätigt fühlt, kalt
getroffen. Und gerade hier macht Chbosky einen Fehler und deutet ein ungemein wichtiges Ereignis etwas zu vage an, wodurch es im ersten Moment unwichtiger erscheint, als es tatsächlich ist.

Doch auch, wenn die Zeit des Heranwachsens emotional und dramatisch ist, darf doch die humoristische Seite nicht fehlen. Der erstklasse Genre-Verwandte „Garden State“ schaffte dies stets mit surrealen Situationen, häufig auf visueller Ebene. „Vielleicht lieber morgen“ überrascht stattdessen mit unzähligen witzigen Dialogen, teilweise sogar leicht komödiantischen Einschüben, die den Film oft locker-leicht wirken lassen. Traut sich jedoch mehr als nur einmal, unvermittelt von einer amüsanten Situation zurück zur Ernsthaftigkeit zu schalten. Gerne auch innerhalb eines einzigen Wortwechsels. Das mag manch einem zu abrupt sein, unterstreicht aber nur Chboskys eigenen Anspruch, möglichst realitätsnah an die Sache zu gehen und sorgt, wenn vielleicht nicht unbedingt für eine Schockwirkung, so doch für einige ungeahnte Stimmungswechsel. Humor und Melancholie gehen so stets Hand in Hand und vereinen sich, unterstrichen durch betörende Bilder und einem herrlichen Indie-Rock-Soundtrack, zu einem emotional packenden, in seinen besten Momenten rauschhaften Gesamterlebnis.

Fazit:
„Vielleicht lieber morgen“ in den Film gehen? Nein, besser heute noch! Was sich beim flüchtigen Blick auf die Inhaltsangabe nach einer durchschnittlichen Coming-of-Age-Story anhört, ist ein gefühlvolles und von den drei Jungdarstellern hervorragend gespieltes Highlight im Indie-Drama-Genre geworden. Angereichert mit überraschend lustigen und pointierten Dialogen sowie einem stilvollen Soundtrack bringt uns „The Perks of Being a Wallflower“ zum Lachen und Mitfühlen, macht uns glücklich und melancholisch zu gleich. Trotz kleiner Längen im letzten Drittel und einer etwas zu vage bleibenden Andeutung eines entscheidenden Schlüsselerlebnisses: Nie war es schöner, ein Außenseiter zu sein.

8,5 / 10

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