Wer hat dem König die Eier geklaut?

22. Juli 2019, Daniel Schinzig

Keine Frage, aktuell werden in den Kinosälen so einige Münder vor Staunen weit offenstehen und Augen ungläubig gerieben werden. „Der König der Löwen“ schlägt im 2019er Remix mit voller visueller Wucht auf uns ein. Noch nie sahen CGI-Welten und -Tiere so echt aus, noch nie glichen Bilder aus dem Computer so sehr Aufnahmen der echten Welt. Würden sich die Münder von Simba, Mufasa, Timon, Pumba und wie sie nicht alle heißen in den Dialogen nicht bewegen, könnte man annehmen, aufwendige Natur-Doku-Aufnahmen wären so zusammengeschnitten und vertont worden, dass einer der beliebtesten Disney-Zeichentrickklassiker aller Zeiten von gewitzten Naturfilmern nachgestellt worden wäre. Das Ziel der Produzenten ist klar: Die Muskeln der Computertechnik spielen lassen und die Massen damit beeindrucken, was grafisch heutzutage schon alles möglich ist – wenn nur das nötige Kleingeld zur Verfügung steht. Scheiß auf Cartoon-Look. Der Realität Konkurrenz machen heißt das Vorgehen. Der Anblick des Babylöwen soll „Ach wie süß“-Gekreische provozieren, der Blick über die afrikanischen Landschaften Ehrfurcht erzeugen, das bei jeder Bewegung und jedem Windhauch Wellen schlagende Fell zum Streicheln einladen. Der Kinozuschauer wird ohne es zu merken zum Besucher eines Zoos mit „König der Löwen“-Thematisierung. „Wow!“, mag da der ein oder andere denken. „Jetzt haben wir es endgültig geschafft und eine neue Ära der Tricktechnik erreicht!“ Doch das ist mitnichten der Fall. Ganz im Gegenteil: Die schöne neue Löwenwelt ist ein Rückschritt.

Schaut mal, wie hässlich der ist!

© The Walt Disney Company

Realistisch soll es sein. So nah wie möglich an unserer Welt. Die Tiere im neuen „König der Löwen“ sollen nicht nur natürlich wirken, sie sollen perfekt sein. Doch die Natur ist nicht perfekt. Das natürlich Unperfekte jedoch ist ein Dorn im Auge desjenigen, der Angst hat. Angst davor, einem Klassiker nicht gerecht zu werden. Angst davor, neue Wege zu beschreiten. Angst davor, konservative Besucher könnten etwas sehen, was gar nicht intendiert war. Daher gilt es, dem Natürlichen alles Unperfekte, alles Unbequeme und vor allem alles Unerwünschte zu rauben. Das zeitgenössische Disney-Abbild der Realität muss atemberaubend sein, aber auch beschnitten. Und so kommt es, dass Mufasas Fell jedes einzelne Haar erkennen lässt und sich jeder einzelne Muskelstrang des Tierkörpers bemerkbar macht – nur Fortpflanzungsorgane hat er keine. Die Tiere aus dem Rechner sind allesamt geschlechtsneutral designt. Sexualität gibt es im virtuellen Afrika nicht. Disney hat dem König seine Eier geklaut. Und damit das eigene filmische Vorhaben torpediert.

Natürlich möchte kein Zuschauer zwei Stunden lang einen Löwendödel über die Leinwand wedeln sehen. Dass die betreffenden Schambereiche dementsprechend oft im Schatten versteckt sind, macht inszenatorisch durchaus Sinn. Doch wenn die Kamera in Szenen, in denen Tiere springen, stürzen oder sich raufen, offenbart, dass an den Lebewesen gar nichts vorhanden ist, was überhaupt versteckt werden müsste, wird es peinlich. Dass die Animatoren den tierischen Protagonisten etwas so Natürliches und Selbstverständliches wie Geschlechtsorgane vorenthalten, sorgt dafür, dass sie auch einer natürlich wirkenden Lebendigkeit beraubt werden. Jedes Kind kennt echte Tiere mit allem, was zu ihnen gehört, aus dem Zoo. Und jedes Kind kann somit erkennen, dass der filmische Zoo namens „Der König der Löwen“ in jeder Sekunde nur die verstörende Kopie eines Zoos ist. Realitätsnahe Bilder, egal wie viel es kostet, aber nicht um jeden Preis.

„Zazu, mach bitte, dass wir wieder Trickfiguren sind!“

© The Walt Disney Company

Der tote Bereich zwischen den Beinen verweist auf Disney selbst, denn auch dem Mäusekonzern scheinen jegliche Eier abhanden gekommen zu sein. Überspringen wir die vielfach gestellte Frage, ob die unzähligen Realfilm- bzw. Quasi-Realfilm-Remakes alter Disney-Klassiker notwendig sind und spulen zu einer anderen, nicht weniger reizvollen Frage: Wie sollten solche Remakes aussehen? Die Verantwortlichen bei Disney scheinen sich da selbst nicht sicher zu sein. Denn die bisherigen Neuverfilmungen decken den gesamten Bereich ab, von „fast vollständig neu interpretiert“ bis „nahezu 1:1 kopiert“. Auffällig ist: Je älter und/oder ungeliebter die Originale sind, desto mehr Freiheiten scheinen die Filmemacher zu haben. David Lowery wusste die bisher am besten zu nutzen und erschuf das kleine Meisterwerk „Elliot, der Drache“, der mit seinem „Schmunzelmonster“-Vorbild kaum noch etwas gemein hatte, mit einem eigenen Stil begeisterte und die Zuschauer tief berührte. Tim Burton fand erst jüngst einen ganz spannenden Weg, Riesenohr-Elefant „Dumbo“ wieder zum Fliegen zu bringen, hakte den Zeichentrickklassiker in den ersten 30 Minuten ab und erzählte dann eine ganz eigene Geschichte. Und „König der Löwen“-Regisseur Jon Favreau schaffte es, den dramaturgisch durchwachsenen Walt-Disney-Trickfilm „Das Dschungelbuch“ mit „The Jungle Book“ dank toller Optik und spannenden neuen inhaltlichen Aspekten sogar zu übertrumpfen.

Doch wenn es um die Werke der goldenen Disney-Ära im Zeitraum 1989 bis 1999 geht, ist es offenbar vorbei mit der Freiheit. Hier scheint eine permanente Angst vor den Kindern von damals, die nun als Erwachsene ins Kino stürmen und auf der Suche nach dem nächsten Nostalgie-Trip sind, im Raum zu sein. Schon „Die Schöne und das Biest – Realfilm Edition 2017“ war unverschämt nah an dem legendären Zeichentrickfilm. Doch die mal mehr mal weniger unnötigen Ergänzungen, die Bill Condon in seine Fantasy-Romanze einbaute, wirken im Vergleich zu dem, was uns mit „Der König der Löwen“ nun präsentiert wird, wie interpretatorische und kreative Höchstleistungen. Der Löwenkönig ist das größte aller großen Flaggschiffe im Disney-Wiederverwertungs-Schrank. Dementsprechend groß war die Nummer, auf die sichergegangen wurde. Und dementsprechend langweilig ist das Ergebnis, das nun im Kino zu begutachten ist.

Glücklich und verspielt – so machen auch Musical-EInlagen wieder Spaß.

© The Walt Disney Company

Mit der unbedingten Vermeidung jeglicher Risiken liefert Disney einen Film, der in die Fänge seiner eigenen Perfektion gerät. Selten zuvor schrien die Bilder auf der Leinwand den Zuschauer so sehr an, dass die Mission der Filmemacher nicht war, eine eigene Vision einer bereits bestehenden Geschichte zu liefern, sondern das Ursprungsmaterial möglichst unangetastet in neue technische Dimensionen zu überführen. Die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, genau diese Geschichte mit fotorealistisch wirkenden Tieren in fotorealistisch wirkenden Szenerien zu erzählen, hat sich offenbar keiner gestellt. Es war möglich, also wurde es gemacht. Das Ergebnis fasziniert und ödet zugleich an. Es fasziniert, weil wir die grafischen Möglichkeiten der heutigen Computertechnik zur Kenntnis nehmen und phasenweise doof glotzend in die Bilderwelten eintauchen. Es ödet an, weil wir gleichzeitig den Verwesungsgeruch hinter den Bildern mit einatmen. Anno 2019 wirkt das Brüllen des Löwen nicht mehr vital, sondern mechanisch. Es berührt uns nicht mehr, es löst nichts in uns aus, es ist nicht einmal mehr spannend. Es sieht einfach nur technisch beeindruckend aus. Und selbst das nur mit Einschränkungen.

Dass es durch das Vorhaben, echte Tiere möglichst naturgetreu zu kopieren, in einigen Szenen zu einem im besten Falle irritierenden „Zu wenig“ an emotional wirkungsvoller Mimik kommt, liest man an vielen Stellen. Hier konnte mit den Zeichentrickvarianten und ihrem manchmal schon fast übertriebenen, stets menschlich wirkenden Gesichtsausdrücken schlicht wesentlich effektiver gearbeitet werden. Dazu eine CGI-Entsprechung zu finden und dabei nicht im Uncanny Valley zu landen, wäre die wahre Meisterleistung gewesen. Fast noch schlimmer als diese mimischen Einschränkungen aufgrund einer falschen visuellen Konzeption ist die Tatsache, dass die Inszenierung von Regisseur Favreau fast permanent fehlende Dynamik aufweist, was insbesondere den Musical-Einlagen den Todesstoß versetzt. Was im Trickfilm audiovisuell besonders verspielt daherkam, wandelt im Möchtegern-Realfilm-Remake wie eine Zombie-Hyäne über einen Elefantenfriedhof.

Tipp von Timon: Schaut mal wieder den Zeichentrickfilm.

© The Walt Disney Company

Man kann die Angst aller Beteiligten, irgendwas falsch zu machen, irgendjemanden zu verärgern, quasi spüren. Es fehlt immer und überall an Lockerheit, an Verspieltheit. Jegliches Aufblitzen von Gefühl, von Leidenschaft, wird direkt wieder gelöscht von der Leblosigkeit einer starren Perfektion. „Der König der Löwen“ ist die filmische Entsprechung einer Angsterkrankung: Nach außen hin wird sich möglichst perfekt und fehlerlos gegeben, doch unter der Oberfläche lodern die Neurosen, die die Kontrolle schon längst an sich gerissen haben. Selbst die wenigen, durchaus vorhandenen neuen Szenen stehen ganz im Zeichen der Technik. Statt dem früheren Werk neue Seiten zu entlocken, statt Ereignisse zu hinterfragen oder der heutigen Zeit anzupassen, statt sich beliebten Charakteren auf andere Weise zu nähern – sprich, statt kreativ und selbstbewusst an de Sache zu gehen – hält die Kamera mal etwas länger auf eine laufende Maus, legen die Drehbuchautoren einigen Protagonisten leicht abgewandelte und ausführlichere Dialoge in den Mund, wird ein Lied aus einem anderen Disney-Klassiker angestimmt (#furchtbar) und etwas länger gekämpft. Den absurden Höhepunkt dieser Änderungen und Quasi-Ergänzungen markiert die elendig lange Reise eines Haarbüschels. Dramaturgisch beschissen, langweilig wie Hölle, aber technisch auf höchstem Niveau.

Alles, was beim 2019er Löwenfilm emotional dann doch wirkt, ist der 1994er Variante zu verdanken; eine vollständige Kapitulation der Kreativität. Manches löst sogar nur deshalb Emotionen aus, weil die merkwürdig-entrückten Bilder auf der Leinwand in uns die Bilder des Originals aufblitzen lassen. Das Original ist schlicht und einfach so wirkungsvoll, dass es selbst die zombiehafte Neuauflage zu Teilen mittragen kann. Wenn wir also etwas Positives aus dem Scheitern der Neuauflage mitnehmen wollen, dann dass sie den hohen Status des Originals bestätigt. Letztlich ist der neue „König der Löwen“ so langweilig und bedeutungslos, dass man nach einiger Zeit mit den Gedanken woanders ist. Zum Beispiel bei dem wundervollen Zeichentrickfilm, der dieselbe Geschichte fast genauso und doch tausendmal besser erzählt. Oder bei der Frage, weshalb es fotorealistisch wirkenden CGI-Löwen nicht gestattet wird, Geschlechtsorgane zu haben. Und das kann weder im Sinne der Filmschaffenden noch sonderlich gesund für die Besucher sein.

 

 

 

 

 

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